Bundeskriminalamt (BKA)

BKA veröffentlicht Ergebnisse des Forschungsprojekts "Extremismen in biographischer Perspektive"

  • Datum:22. September 2010
  • Ausgabejahr:2010

Unter dem Titel "Die Sicht der Anderen" (Lützinger 2010) veröffentlicht das Bundeskriminalamt (BKA) im Rahmen der Publikationsreihe "Polizei + Forschung" die Ergebnisse des Forschungsprojekts "Extremismen in biographischer Perspektive (EbiP)". Das Projekt wurde von der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus des BKA konzipiert und in Kooperation mit dem Rhein Ruhr Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt.

Ziel des Projekts war es herauszufinden, was zur Begehung von Straftaten aus dem Bereich der politisch motivierten Kriminalität führt. Auf der Grundlage eines biographischen Ansatzes ist der Fokus auf das "Warum" von Radikalisierung gerichtet: Können biographische Konstellationen bzw. Weichenstellungen erkannt werden, die den Weg in den Extremismus – welcher ideologischen Ausrichtung auch immer – wahrscheinlicher machen?

Empirisch-methodische Zugänge

Von Dezember 2004 bis Dezember 2008 wurden die biographischen Verläufe von 39 (vornehmlich inhaftierten) Extremisten bzw. Terroristen in Form von Interviews erhoben. Das eingesetzte offene Interviewverfahren war darauf ausgelegt, das erlebte Geschehen bzw. die Lebensgeschichten, die – zumindest vorübergehend – in Extremismus und Terrorismus mündeten, aus Sicht der Betroffenen rekonstruieren zu können. Zwischen den Repräsentanten aus den unterschiedlichen Extremismen (Links-, Rechts-, islamistischer Extremismus) wurde anschließend ein systematischer Vergleich gezogen.

Ergebnisse

Die Studie kommt zu folgenden zentralen Ergebnissen:

  1. Radikalisierungsprozesse stellen keine, von der sonstigen Entwicklung anderer Lebensbereiche (wesentlich: Schule, Familie, Freizeit) isolierten Prozesse dar. Sie sind integraler Bestandteil biographischer Verläufe.
  2. Es gibt Gemeinsamkeiten in den psychosozialen Dynamiken der Akteure ideologisch unterschiedlich orientierter Milieus. Hierzu gehören z. B. strukturell und emotional gestörte Familiensysteme, Missverhältnisse zwischen Anforderungen und verfügbaren sozialen Stützsystemen, Brüche in Bildungskarrieren. Trotz aller Ähnlichkeit bestimmter psychosozialer Grundmuster der Entwicklungsverläufe werden auch sehr unterschiedliche Motivlagen und Wege in den Extremismus offenkundig.
  3. Die Entscheidung für ein bestimmtes extremistisches Umfeld hängt stark von Zufällen bzw. der Verfügbarkeit von Orientierungsmodellen ab. Die extremistische Szene bietet offenbar Lösungsschemata, um Defizite im eigenen Lebenslauf und in der Persönlichkeit zu kompensieren.
  4. Religion und Politik waren für die meisten Befragungsteilnehmer von eher marginaler Bedeutung. Vielmehr standen soziale Aspekte (Zusammenhalt, soziale Anbindung, emotionaler Rückhalt etc.) für sie im Vordergrund.
  5. Insgesamt überwog allgemein-delinquentes Verhalten – größtenteils bereits auch im Vorlauf des Szeneeinstiegs – gegenüber politisch motivierten Straftaten. Auch wurde deutlich, dass politisch motivierter Kriminalität häufig keine tatsächliche ideologische Motivation zu Grunde lag.

Resümee

Radikalisierungsverläufe von Akteuren unterschiedlicher extremistischer Milieus weisen mehr Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer psychosozialen Verlaufsdynamik auf, als es die jeweiligen ideologischen Grundlagen der unterschiedlichen Milieus vermuten lassen. Die untersuchten Biographien charakterisieren grundlegend entwicklungsbelastete Personen. Ursachen sind beispielsweise strukturell und emotional gestörte Familiensysteme, fehlende soziale Bindungen oder Brüche in Bildungs- und Berufskarrieren.