Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: "Es gibt in Deutschland keine No-go-Areas"

BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit dem Handelsblatt

Moritz Koch: Herr Münch, herrscht in Deutschland Recht und Ordnung?

Holger Münch: Wir leben in einem sehr sicheren Land. Aber wenn man aufhört besser zu werden, hört man auf, gut zu sein. Darum arbeiten wir ständig daran, mit den Entwicklungen Schritt zu halten und unsere Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Koch: Gesundheitsminister Jens Spahn hat dagegen den Eindruck, dass der Staat in Arbeitervierteln in Essen, Duisburg oder Berlin gar nicht mehr willens oder in der Lage ist, Recht durchzusetzen.

Münch: Es gibt in Deutschland keine No-Go-Areas, aber natürlich können Stadtteile wegdriften. Solchen Problemvierteln muss man mit einem Bündel von Maßnahmen begegnen. Dazu gehört aber nicht nur Polizeiarbeit, sondern auch städtebauliche, soziale und ordnungsrechtliche Maßnahmen.

Koch: Banden und Clans scheinen aber mancherorts ungestört ihr Unwesen zu treiben.

Münch: Wichtig ist es frühzeitig zu erkennen und zu intervenieren, wenn vernetzte kriminelle Strukturen entstehen. Was wir heute unter dem Sichtwort Clan-Kriminalität diskutieren, ist auch eine Folge der 90er Jahre.

Koch: Woran denken Sie konkret?

Münch: Es geht um Gruppen, die über Jahre ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland gelebt haben. Die sehr abgeschottet lebten, aber auch nicht in der Lage waren, sich zu integrieren. Die ältere Generation konnte nichts zum Lebensunterhalt beitragen, ohne positive Vorbilder sind viele in der nächsten Generation kriminell geworden. So entstand eine kriminelle Subkultur. Deshalb sind gute Integrationsarbeit einerseits und konsequente ausländerrechtliche Maßnahmen andererseits so wichtig. Zudem müssen sich entwickelnde Strukturen frühzeitig erkannt und bekämpft werden. Auch hier ist konsequente Polizeiarbeit aber immer nur ein Teil der Strategie und Maßnahmen vor Ort.

Koch: Wie stark schätzen Sie in Deutschland die Organisierte Kriminalität ein?

Münch: Nach wie vor gibt es die klassischer Strukturen der Organisierten Kriminalität wie die italienische Mafia oder Rocker. Daneben gibt es aber auch andere Formen wie die russisch-eurasisch Organisierte Kriminalität, die auch im Bereich der Allgemeinkriminalität aktiv ist. Wir sehen in allen Kriminalitätsbereichen, ähnlich wie in der Wirtschaft, außerdem eine immer stärkere Vernetzung. Befördert wird dies auch durch das Internet. Auf diese veränderten Bedingungen reagieren wir unter anderem mit einem flexiblen, länderübergreifenden und projektorientierten Ansatz. Erfolge haben wir so beispielsweise im Bereich Eigentumskriminalität durch georgische Banden oder beim Betrug durch russische Pflegedienste erzielt.

Koch: Um welche Straftaten geht es bei der Organisierten Kriminalität?

Münch: Die Rauschgiftkriminalität spielt in den klassischen Strukturen nach wie vor eine große Rolle, da viel Geld zu verdienen ist. Bei Eigentums- und bei Gewaltdelikten finden wir vor allem Täter aus dem russisch-eurasischen Raum. Wir sehen aber auch, dass Täter die Deliktsbereiche wechseln. So sind die Zahlen beim Wohnungseinbruchdiebstahl aktuell rückläufig, auch weil wir den Verfolgungsdruck erhöht haben. Jetzt hören wir jedoch beispielsweise Klagen der Einzelhändler über Ladendiebstähle.

Koch: Wie erklären Sie sich das große Unsicherheitsgefühl der Bürger?

Münch: Objektive und subjektive Sicherheit entwickeln sich unabhängig voneinander. Wenn Sie persönlich die Entwicklung von Globalisierung, Terrorismus oder vielleicht auch Migration als bedrohlich einschätzen, dann lassen Sie sich auch von der Statistik nicht beruhigen, die belegt, dass Straftaten und auch Gewaltdelikte rückläufig sind.

Koch: In Münster ist vor kurzen ein Mann mit einem Fahrzeug in ein Café gerast. Haben Sie nicht auch sofort an einen neuen Terroranschlag gedacht?

Münch: Ein Terroranschlag war für mich eine Option von vielen. Als Polizei müssen wir mit solchen Situationen professionell umgehen und uns auf verschiedene Szenarien einstellen. Natürlich haben wir im BKA sofort den ganzen Apparat hochgefahren, um im Falle eines Terroranschlags die Ermittlungen gegebenenfalls schnell übernehmen zu können.

Koch: Das klingt alles sehr abgeklärt. Haben auch die Medien Schuld, dass man bei einem Anschlag wie in Münster sofort an einen Terroranschlag denkt?

Münch: Natürlich ist es so, dass über große Fälle wie Terroranschläge, Kapitalverbrechen oder Sexualdelikte intensiv berichtet wird. Das fördert den Eindruck der Omnipräsenz von Kriminalität und führt auch mit dazu, dass die Bürger sich unsicher fühlen. Daher begrüße ich, dass auch innerhalb der Medien diskutiert wird, wie man verantwortungsvoll berichten kann, ohne dass das berechtigte Informationsinteresse leidet.

Koch: Wie schätzen Sie die Terrorgefahr in Deutschland ein?

Münch: Es gibt nach wie vor eine ernstzunehmende Bedrohungslage. Wir haben eine hohe Anzahl von Gefährdern, die weiterhin steigend ist – aktuell etwa 760. Wir hatten 2017 in Europa mehrere Anschläge mit Todesopfern. In Deutschland haben wir 2017 drei Anschläge verhindern können – Fälle, bei denen die Täter unmittelbar zu einer Tatplanung angesetzt haben. Wir sehen auch für die kommenden Jahre keine Entspannung.

Koch: Das IS-Kalifat in Syrien und im Irak ist zerschlagen. Welche Folgen hat das für die Sicherheitslage in Deutschland?

Münch: Die territoriale Struktur des Islamischen Staats gibt es zwar nicht mehr, aber die Zahl der Radikalisierten hat sich dadurch nicht verringert. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Personen, die aus Europa und anderen Regionen ausgereist sind, um sich dem IS anzuschließen, zurückkehren – und zwar nicht zwingend in ihre Heimatländer. Hier setzten wir frühzeitig an, um solche Personen zu erkennen, auch im europäischen Verbund. Zudem sehen wir ein erhöhtes Radikalisierungspotential bei Teilen der nach Deutschland Geflüchteten. Hier geht es um Personen, die entwurzelt sind, nach Halt suchen, teilweise traumatische Erfahrungen gemacht haben und in die falschen Kreise geraten. Wichtig ist daher zum einen, dass wir radikalisierte Personen erkennen und Gefährder im Blick behalten – auch wenn sie aus der Haft entlassen werden. Wir brauchen aber auch eine gute Präventionsarbeit, um die Gefahr mittelfristig zu reduzieren. Zudem spielt auch hier das Thema Integration und konsequente ausländerrechtliche Maßnahmen eine große Rolle.

Koch: Fürchten Sie eine neue Welle von IS-Rückkehrern?

Münch: Derzeit sehen wir keine große Rückreisewelle. Von den 980 Personen, die aus Deutschland in das IS-Gebiet gereist sind, ist ein Drittel wieder hier. Eine nicht unerhebliche Zahl ist in Syrien und im Irak ums Leben gekommen. Andere sind vor Ort verhaftet worden. Unsere Aufgabe ist es, uns auf die Rückreisenden einzustellen. Wir bereiten die Strafverfolgung vor, um reagieren zu können, wenn deutsche Staatsbürger nach Deutschland zurückehren. So waren wir beispielsweise im Irak, um Deutsche, die dort in Haft sind, zu vernehmen.

Koch: Innenminister Hort Seehofer sagt: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Trägt das zur Entspannung der Sicherheitslage bei oder heizt das die Spannungen im Land an?

Münch: Ich kann keine unmittelbare Wirkung auf die Kriminalitätslage erkennen. Fakt ist: Wir müssen die Werte, die wir in Deutschland haben, in den Mittelpunkt stellen, also die freiheitlich-demokratische Grundordnung bis hin zur Rolle der Frauen in unserer Gesellschaft. Integration bedeutet, die hier gelebten Werte und Gesetze zu akzeptieren – unabhängig von der Religion.

Koch: Bei der Terrorabwehr arbeiten die verschiedenen Behörden schon seit 2004 im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum zusammen. Warum wurde der Attentäter Anis Amri trotzdem nicht gestoppt?

Münch: Der Fall Anis Amri hat Schwachstellen in unseren Systemen aufgezeigt. Wir haben daher die Zusammenarbeit im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum im Hinblick auf den Umgang mit Gefährdern weiterentwickelt. Es werden seitdem nicht mehr nur konkrete Gefährungssachverhalte in den Mittelpunkt gestellt, sondern unabhängig davon auch die Gefährlichkeit der Personen und die konkret erforderlichen Maßnahmen betrachtet und abgestimmt.

Koch: Den Fall Anis Amri würde es heute also nicht mehr geben?

Münch: Ich kann nicht garantieren, dass wir mit 100 prozentiger Sicherheit einen Anschlag verhindern können. Aber heute können wir jemanden wie Anis Amri mit dem Bewertungssystem RADAR-iTE bewerten, um anschließend ein individuelles Maßnahmenkonzept auszuarbeiten und die Anschlagsgefahr möglichst gering zu halten.

Koch: Der Laie fragt sich natürlich: Warum kann jemand, der rot eingestuft wird, noch frei herumlaufen?

Münch: Wir haben einen Rechtsstaat. Langfristig in Haft genommen werden kann nur, wer eine Straftat begangen hat und verurteilt wurde. Gefährdern trauen wir zwar zu, eine schwere Straftat zu begehen, dies ist allerdings eine polizeiliche Einschätzung im Bereich der Gefahrenabwehr und keine Verurteilung durch ein Gericht.

Koch: Werden nicht immer wieder Leute durchs Raster fallen, weil wir in Deutschland einen sicherheitspolitischen Flickenteppich haben?

Münch: Der Föderalismus hat viele Stärken, aber auch Schwächen, die wir angehen müssen. Wir haben 16 Polizeigesetze in den Bundesländern plus das Recht im Bund mit teils unterschiedlichen Befugnissen. Es ist dringend notwendig, dass wir einen einheitlichen Werkzeugkasten für die Terrorbekämpfung haben. Nach wie vor ist es in einigen Bundesländern zum Beispiel nicht möglich, eine Kommunikationsüberwachung zur Gefahrenabwehr durchzuführen. Das ist eine erkannte Schwachstelle, die Innenministerkonferenz hat deshalb beschlossen, ein Musterpolizeigesetz zu entwickeln.

Koch: Seehofer will beim BKA eine neue Abteilung zur Terrorabwehr einrichten und 1000 neue Stellen schaffen. Ist Terrorabwehr nicht schon seit RAF-Zeiten eine Kernaufgabe ihrer Behörde?

Münch: Wir brauchen die Fähigkeit, die hohe Zahl der Verfahren im Bereich des islamistischen Terrorismus führen zu können. Die Lasten sind gerade für die Länder extrem: Wir haben neben den vielen Gefährdern aktuell republikweit mehr als 1000 Ermittlungsverfahren im Bereich islamistischer Terrorismus, 170 davon führt das BKA. Damit das BKA mehr Verfahren übernehmen kann, brauchen wir zusätzliche Ermittlungskapazitäten. Außerdem soll mit einer neuen Abteilung die Koordinationsrolle des BKA in der Gefährderüberwachung gestärkt werden.

Koch: Sind Sie manchmal neidisch auf Ihre US-Kollegen vom FBI, die viel besser ausgestattet ist?

Münch: Nein. Man braucht für jeden Rechtsraum die richtige Organisation. So gehören wir, bei der Bekämpfung von Cybercrime zu den führenden Nationen. Außerdem haben wir eine sehr gute, sehr gründliche Ausbildung, was auch zu einer hohen Ermittlungsqualität beiträgt.

Koch: Brauchen wir ein europäisches FBI?

Münch: Wir müssen die koordinierende Funktion von Europol weiter stärken. Daran arbeiten wir auch und haben entsprechende Entwicklungen angestoßen, vor allem im Bereich Terrorismus. Ich glaube aber nicht, dass wir analog zum FBI Ermittlungsbefugnisse auf europäischer Ebene brauchen. Niemand würde verstehen, wenn wir nach einem Anschlag in Deutschland nicht auch deutsche Behörden ermitteln würden. Außerdem gibt es kein europäisches Straf- und Strafprozessrecht. Wichtig ist aber die digitale Vernetzung, die Vereinheitlichung der Systeme weiter voran zu treiben und technische Instrumente gemeinsam zu entwickeln.

Koch: Sie wollen einen bundesweiten Datenpool zur Verbrechungsbekämpfung schaffen. Was versprechen Sie sich davon?

Münch: Wir haben 16 unterschiedliche IT-Systeme der Polizeien in den Bundesländern, abgeschottete Silos sozusagen, die dann kompliziert über das Zentralsystem INPOL verbunden sind. Mit der heutigen Struktur sind wir zu langsam. Denn wenn wir Änderungen am System vornehmen wollen, müssen wir das Zentralsystem und alle Teilnehmersysteme ändern. Außerdem machen es die unterschiedlichen Systeme schwerer, Zusammenhänge zu erkennen. Bei einem einzelnen Einbruch sehen Sie bloß eine aufgebrochene Wohnung. Ob es ein reisender Täter war, erkennen Sie länderübergreifend erst, wenn gleiche Modus Operandi oder Spuren als zusammenhängend erkannt werden können. Daher ist es wichtig, Daten an einem Ort zu speichern, um die eigenen Daten anderen schneller zur Verfügung stellen zu können. Bisher mussten die Daten, wenn man solche Zusammenhänge vermutet hat, aufwändig in einer eigenen Datei zusammengeführt werden. Künftig können sie dem polizeilichen Verbund per Klick zur Verfügung gestellt oder auch wieder entzogen werden. Außerdem werden wir mit dem neuen System auch gestiegene Datenschutzanforderungen besser umsetzen können.

Koch: Nährt die Tatsache, dass es nach wie vor diese gewaltigen föderalen Reibungsverluste gibt, das Gefühl der Unsicherheit bei den Bürgern?

Münch: Das Vertrauen in die Sicherheitsorgane ist ein ganz entscheidender Faktor für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. Vertrauen basiert auf Kompetenzvermutung und Integrität. Polizeibehörden müssen also über Ländergrenzen hinweg effektiv arbeiten und rechtstaatlich agieren. Letzteres heißt, dass wir auch im digitalen Zeitalter transparent und nachvollziehbar agieren.

Koch: In China wird gesichtserkennende Software eingesetzt, kürzlich wurde ein Verdächtiger aus einer Menge von 60 000 Konzertbesuchern herausgefischt. Ist das für Sie eine Utopie oder der Albtraum vom Überwachungsstaat?

Münch: Das Thema Gesichtserkennung und künstliche Intelligenz sind realistische Optionen, auch für uns. Schauen Sie sich an, mit welchem Aufwand wir arbeiten – zum Beispiel im Fall Amri: Um seinen Fluchtweg nachzuvollziehen, hat das BKA Bildmaterial von Bahnhöfen erhalten. Wir hatten kistenweise USB-Sticks und Festplatten, die wir über Wochen händisch ausgewertet haben. Das kann man heute keinem mehr erklären. Bei der Auswertung solcher Datenmassen kann künstliche Intelligenz, Gesichts- und Personenerkennung, durchaus hilfreich sein.

Koch: Aber die Schreckensvision des gläsernen Bürgers rückt immer näher.

Münch: Nein, es geht doch nicht darum, mehr Kameras zu installieren. Das ist eine ganz andere Frage. Es geht darum, schnell, sicher und effizient die Informationen zu generieren, die die Polizei braucht, um ihre Aufgaben zu erledigen. Wir wollen solches Bildmaterial in eine gemeinsame Plattform der Polizei einspeisen und mit einem System der Gesichtserkennung kombinieren können. Das ist auch etwas, was wir mit unserem neuen Datenhaus ermöglichen und verbessern wollen.