Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: "Es gibt mehr radikale Islamisten in Deutschland"

BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung

Marion Trimborn: Herr Münch, eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hat gezeigt, dass mit der Zuwanderung auch die Kriminalität in Deutschland steigt. Das hat für viel Aufsehen gesorgt. Warum muss man das aus einer unabhängigen Studie erfahren?

Holger Münch: Die zahlenbasierten Aussagen, die die Studie für Niedersachsen trifft, sind nicht neu, sondern entsprechen den Erkenntnissen aus den Lageberichten des BKA. In diesen betrachten wir die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Kriminalitätslage in Deutschland. Sie zeigen zunächst, dass die absolute Mehrheit der Zuwanderer in Deutschland keine Straftaten begeht, aber auch, dass die Zahl der von Zuwanderern begangen Straftaten von 2015 auf 2016 um rund 40 Prozent angestiegen ist. Die meisten Straftaten sind Diebstahls-, Vermögens- und Fälschungsdelikte. Außerdem zeigen unsere Auswertungen, dass bestimmte Gruppen, wie beispielsweise Zuwanderer aus den Maghreb-Staaten, im Verhältnis zu ihrem Anteil an den Zuwanderern, überrepräsentiert sind.

Trimborn: Die Vermutung, dass die Polizei solche Aussagen aus politischer Korrektheit zurückhält, stimmt also nicht?

Münch: Nein, im Gegenteil: Wir haben bereits Ende 2015 damit begonnen, regelmäßig Lageübersichten zu erstellen und diese auch zu veröffentlichen, um die Diskussion zur Kriminalität im Kontext von Zuwanderung auf eine belastbare Basis zu stellen und auch um Trends in der Kriminalitätsentwicklung zu erkennen.

Trimborn: Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die jungen Kerle – vor allem aus Nordafrika - das Problem sind. Ist das richtig?

Münch: Es ist eine allgemeine Erkenntnis aus der Kriminologie, dass junge Männer sehr viel häufiger Straftaten begehen als andere Altersgruppen oder auch Frauen. Da der überwiegende Teil der Zuwanderer männlich und unter 30 ist, ist es nicht verwunderlich, dass, wenn genau diese Gruppe zu uns kommt, auch die Kriminalität ansteigt.

Trimborn: Der Kriminologe Prof. Pfeiffer erklärt das Phänomen damit, dass Nordafrikaner keine Perspektive haben, in Deutschland bleiben zu dürfen, und deshalb häufiger Straftaten begehen…

Münch: Hinter diese Aussage mache ich ein Fragezeichen. Das ist eine These, die aus unserer Sicht in der Studie nicht ausreichend belegt wird. Natürlich sind Zukunftsperspektiven und Integration Erfolgsfaktoren, um Kriminalität zu vermeiden. Das erklärt aber nicht die großen Unterschiede zwischen Zuwanderern aus dem Maghreb und aus Syrien oder dem Irak.

Trimborn: Welche Gründe sehen Sie?

Münch: Nicht betrachtet wurden zum Beispiel die soziale Herkunft, der Bildungshintergrund und die sozio-ökonomische Herkunft. Insofern greift die Studie mit ihren Erklärungsansätzen aus unserer Sicht zu kurz. Ein Beispiel: In Syrien und im Irak herrscht Krieg, Menschen fliehen vor Gewalt und Verfolgung. Die Vermutung liegt daher nahe, dass von dort auch Menschen kommen, die einen höheren Bildungsstand haben, dort vor dem Krieg ein geregeltes Leben hatten. Die Gründe, warum Menschen aus beispielsweise den Maghreb-Staaten zu uns kommen, sind dagegen häufig andere. In Nordafrika herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Daher liegt der Verdacht nahe, dass die Menschen aus ökonomischen Gründen zu uns kommen, eine geringere Bildung haben, ohne Arbeit waren, dort zum Teil schon kleinkriminell waren. Eine belgische Studie weist auf solche Unterschiede für die Flüchtlinge dort hin. Es wäre wichtig, sich diese Hintergründe genauer anzuschauen, denn sie haben Auswirkungen darauf, welche Maßnahmen man ergreifen sollte.

Trimborn: Im pfälzischen Kandel hat ein angeblich minderjähriger Afghane eine 15-Jährige erstochen. Viele Politiker fordern, das Alter von Flüchtlingen etwa durch ein Röntgenbild festzustellen. Finden Sie das richtig?

Münch: Das Alter hat Einfluss auf die Strafbarkeit, denn für Jugendliche und Heranwachsende gilt das Jugendstrafrecht. Daher halte ich die Altersfeststellung gerade bei Intensivtätern für ein wichtiges Instrument.

Trimborn: Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung aus Union und SPD?

Münch: Vorn auf der Agenda steht, dass wir die Zusammenarbeit von Bund und Ländern weiterentwickeln und für eine stärkere Standardisierung die Polizeigesetze vereinheitlichen. Dazu gehört auch, dass der Bund mehr herausragende Ermittlungsverfahren im Bereich des islamistischen Terrorismus führen sollte. Außerdem muss das Recht bei Straftaten im digitalen Raum modernisiert werden. Es kann nicht sein, dass jemand, der automatische Computerprogramme entwickelt, um über Softwarelücken in Server einzubrechen, und damit Millionenschäden anrichtet, eine Bewährungsstrafe erhält. Oder dass jemand, der einen Online - Handelsplatz für Drogen und Waffen aufbaut, milder bestraft wird als jemand, der auf diesem Handelsplatz die Drogen verkauft. Wenn wir über Industrie 4.0 und Kriminalität 4.0 diskutieren, können wir nicht mit dem Recht 1.0 arbeiten.

Trimborn: Das BKA hat ein neues System namens Radar-ITE entwickelt, um das Risiko von Terrorverdächtigen besser einzuschätzen. Kritiker fürchteten, dass die Zahl allein wegen der weitgefassten Kriterien wächst. Genau das ist passiert, inzwischen gibt es 730 Gefährder. Erweckt das nicht einen falschen Eindruck?

Münch: Wir haben eine Verfünffachung der Gefährder-Zahlen in den letzten vier Jahren. Das ist aber keine Konsequenz aus dem Programm Radar-iTE, im Gegenteil, wir können mit Hilfe von Radar-iTE auch den ein oder anderen von der Liste streichen. Der Anstieg der Gefährderzahlen entspricht vielmehr der Entwicklung, dass es mehr radikale Islamisten in Deutschland gibt. Zum Beispiel zählen wir inzwischen mehr als 10.800 Salafisten in Deutschland.

Trimborn: Was hat sich durch dieses Programm verbessert?

Münch: Es sorgt für eine einheitliche Bewertung von Gefährdern. Es erlaubt eine Einstufung auf einer dreistufigen Risikoskala und zeigt im Ergebnis ein Risikoprofil der Person. Es ist somit die Grundlage für eine Priorisierung und für eine maßgeschneiderte Überwachung. Wir schnüren für Personen, die in die Stufe Rot eingeordnet sind und sich nicht im Gefängnis oder im Ausland befinden, ein individuelles Maßnahmenpaket. Dazu kann auch Überwachung gehören. Aber wir sehen uns mit Experten auch das soziale Umfeld an und klären, ob wir auch präventiv etwas tun können, man ihnen beispielsweise einen Job vermitteln könnte. Im gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum haben wir dazu eine neue Arbeitsgruppe Risikomanagement eingerichtet.

Trimborn: Stimmt es, dass Amri wegen der Intervention ausländischer Geheimdienste nicht verhaftet wurde?

Münch: Das ist Unsinn, es gibt keine steuernden Mächte im Hintergrund.

Trimborn: 2016 gab es noch mehrere Terroranschläge in Deutschland, darunter den Berliner Anschlag mit zwölf Toten. Im vergangenen Jahr gab es keinen, die Behörden verhinderten drei Anschläge. Sinkt das Terrorrisiko?

Münch: Solche kurzfristigen Schwankungen sind ein schlechter Indikator. Außerdem müssen wir nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Europa blicken, wo wir 2017 mehrere Anschläge mit Todesopfern hatten. Die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus ist nach wie vor hoch. Nach dem Zusammenbruch der Terrormiliz IS in Syrien und dem Irak könnten künftig mehr gefährliche Personen nach Europa kommen – auch wenn wir derzeit noch keine solche Rückkehrwelle sehen. Gleichzeitig haben wir aber auch die Chance, mehr Informationen aus Syrien und dem Irak zu bekommen, um hier dann entsprechende Strafverfahren einzuleiten.

Trimborn: Wie lange wird uns der Terrorismus in Deutschland noch beschäftigen?

Münch: Das kann ich nicht abschließend sagen. Auf jeden Fall noch mittelfristig. Was in der Medienberichterstattung bisher aus meiner Sicht zu kurz kam, sind weitere Erkenntnisse aus der Studie von Professor Pfeiffer: Er hat untersucht, wie groß der Zuspruch unter Schülern zu rechtsextremen und islamistischen Aussagen ist. Ergebnis ist, dass sich die Zustimmung von Schülern zu rechtsextremen Einstellungen auf einem hohen Niveau befindet. Außerdem treffen rund acht Prozent der befragten muslimischen Schüler zustimmende Aussagen über den sogenannten Islamischen Staat. Wir haben hier also Radikalisierungsrisiken – wir dürfen in den nächsten Jahren nicht nachlassen und brauchen auch weitere Anstrengungen im Bereich der Prävention.