Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: "Die Bedrohungen durch den Terror können nur durch intensive Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und vereinheitlichte Strukturen gemeistert werden."

BKA-Präsident Holger Münch im Radiointerview beim Deutschlandfunk

Gerwald Herter: Herr Präsident, absolute Sicherheit kann niemand garantieren, dennoch muss man es versuchen. Vor dem Anschlag, der durch Anis Amri durchgeführt wurde, hat es Fehler gegeben, auch von Polizeibehörden. Was wurde seitens des BKA, des Bundeskriminalamts im letzten Jahr verändert, um solche Fehler zu vermeiden?

Holger Münch: Wir haben natürlich auch sehr kritisch draufgeguckt im Nachgang, was müssen wir anders machen? Denn wenn ein Anschlag passiert, dann kann man nie sagen, alles ist richtig gelaufen. Bei dem Ergebnis müssen Fehler passiert sein. Das eine ist, dass am Jahresanfang wir unsere Konzepte nachgeschärft haben, gemeinsam mit den Bundesländern. Ist genug geklärt, wann welche Verantwortung übergeben wird? Ist klar, wie man mit mobilen Tätern umgeht, wie man noch andere Behörden einbindet, wie man mit Sammelverfahren umgeht? All diese Themen, die sich ja bei Anis Amri dann auch als mögliche Anpacker, die man noch hätte haben können, abgezeichnet haben. Das haben wir alles in den Konzepten nachgeschärft. Und wir haben dann auch das, was wir ohnehin schon im Plan hatten, nämlich die Gefährderbeurteilung zu vereinheitlichen in Deutschland in einem neuen System, dann noch mal beschleunigt und haben hier ein neues System eingeführt und auch unsere Zusammenarbeit im Terrorismusabwehrzentrum weiter verbessert in Hinblick auf eine bundesweite Abstimmung der Maßnahmen, nicht nur bei Einzelsachverhalten, wie wir das vorher hatten, sondern auch prinzipiell, wie muss man mit einem Gefährder umgehen mit dem jeweiligen Profil, was er hat.

Herter: Lassen Sie mich ein Beispiel herausgreifen, das auch in dem Untersuchungsbericht von dem früheren Bundesanwalt Jobst genannt wurde. Das sind die Handflächen. Um Herrn Amri abschieben zu können, hätte man damals Handflächenabdrücke haben müssen. Das haben die tunesischen Behörden gesagt. Diese lagen vor, waren aber der entscheidenden Stelle offenbar nicht bekannt. Würde sich so etwas wiederholen können?

Münch: Nun, das sind Dinge, die man dann auch noch einmal in Nordrhein-Westfalen beurteilen muss. Um das System zu erklären: Bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung werden die Fingerabdrücke und die Handflächen genommen, und eine solche ordnungsgemäße erkennungsdienstliche Behandlung ist bei Anis Amri schon im Juli 2015 durchgeführt worden. Es gab dann Erkenntnisanfragen in Richtung Tunesien, um seine Identität festzustellen. Das war dann schon im Februar 2016. Die haben wir dann auch für Nordrhein-Westfalen gesteuert und haben dann selbst im April den Tunesiern anlässlich einer Dienstreise aus anderen Gründen diese Handflächenabdrücke und Fingerabdrücke auch schon mal übergeben mit der Bitte, zu bestätigen, ob das die Person ist, mit der wir zu tun haben. Damals war er noch gar nicht ausreisepflichtig. Und dann in den Monaten danach immer wieder nachgehakt. Insofern lagen die Handflächenabdrücke vor. Wir haben sie sogar zweimal übergeben und sie sind auch abrufbar im System durch jede Polizeibehörde. Wenn ich dann die Person überprüfe, stelle ich fest, es gibt eine erkennungsdienstliche Behandlung. Sie liegt vor und ich kann auch den Bogen sehen und kann ihn mir auch selbst ausdrucken. Also insofern ist es keine Systemschwäche, die es zu beseitigen gilt. So gut sind wir dann in Deutschland schon aufgestellt, dass man recherchieren kann, ob es einen solchen Handflächenabdruck gibt.

Herter: Bloß, man muss eben recherchieren.

Münch: Ja, wie gesagt, alles andere muss man dann in Nordrhein-Westfalen klären. Es ist ein individueller Fehler. Und Sie können, natürlich, Systeme so gut es geht bauen. Am Ende geht es immer wieder auch um individuelle Fehler, und deshalb brauchen wir auch Vier-Augen-Prinzipien, um die auch wieder so weit wie möglich zu reduzieren.

Herter: Polizei ist in Deutschland Ländersache, das ist ja schon angeklungen. Die Sicherheitsarchitektur ist sehr kompliziert in Deutschland muss man sagen. Hier in der Nähe - wir reden in Berlin - ist das gemeinsame Terrorabwehrzentrum. Auch das haben Sie schon angesprochen. Wurde da zu viel - im Fall Anis Amri - Informationsaustausch betrieben, ohne dass jemand federführend war? War das das Problem?

Münch: Nein, das glaube ich nicht. Die Verantwortung für Anis Amri war immer klar. Und zwar ergibt sich das auch aus den Konzepten der Gefährdereinstufung und -überwachung. Wer die federführende Behörde war, war zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar. Es war Nordrhein-Westfalen, und als er sich mehr in Berlin aufhielt, dann auch Berlin. Und beim Strafverfahren wurde es gleich in Berlin geführt, obwohl er als Gefährder noch in Nordrein-Westfalen geführt wurde. Das war meines Erachtens nicht das Problem. Es wird dann schwieriger, wenn am Ende sich herausstellt, dass der Ursprungssachverhalt sich nicht bestätigt. Bei Anis Amri ist man davon ausgegangen, dass er - so waren die Hinweise - sich Schnellfeuergewehre beschaffen will, um einen Anschlag zu begehen. Darauf waren die Maßnahmen ausgerichtet, das festzustellen. Dieser Verdacht hat sich nicht bestätigt in der Zeit, sodass man dann irgendwann auch nicht mehr die Überwachungsmaßnahmen oder Strafverfahren hatte. So, dann ist die Frage: Was macht man dann? Hier haben wir auch weiter im GTAZ darüber gesprochen, und die Verabredung war, die ausländerrechtlichen Maßnahmen zu forcieren, um dann auch die Ausweisung zu erreichen. So, und hier fragen wir uns natürlich im Nachgang, haben wir eine Lücke gehabt? Was hätten wir tun müssen bei einem solchen Gefährder? Und das ist etwas, was wir jetzt sehr stark nachschärfen. Zum einen haben wir ein System eingeführt, dass jeder Gefährder auf seine Gefährlichkeit hin noch einmal beurteilt wird mit einem bundeseinheitlichen System, das nennt sich Radar.

Jeder zuständige Sachbearbeiter hat dann also die Information auch auf eine bestimmte Art und Weise aufzubereiten, so dass wir Risikofaktoren und auch Risiko minimierende Faktoren erkennen können. Dann haben Sie als Ergebnis ein Risikoprofil und eine Einstufung auf einer dreistufigen Skala. Anis Amri wäre in Rot, also ganz oben, gelandet auch zu dem Zeitpunkt oder mit den Informationen, die wir zum damaligen Zeitpunkt hatten. Und hier geht es dann im nächsten Schritt darum, die richtigen Maßnahmen für diese Situation zu bestimmen. Dazu haben wir jetzt eine weitere Arbeitsgruppe im GTAZ eingerichtet. Sie nennt sich Arbeitsgruppe Risikomanagement. Und hier stehen dann unsere erfahrenen Leute auf noch mit entsprechender wissenschaftlicher Unterstützung - wir haben auch Psychologen im Team - bereit, um dann auch dieses Maßnahmenkonzept mit der zuständigen Stelle abzustimmen.

Das Ziel ist also hier Vier-Augen-Prinzip und über diese Behandlung in Fallkonferenzen bundesweit vergleichbare Konzeption in vergleichbaren Fällen zu erreichen. Das Ganze wird auch noch mal begleitet mit wissenschaftlicher Unterstützung, quasi beim Gehen daraus ein Konzept zu machen. Riskant heißt das. Sie sind übrigens die Ersten, die einen solchen Ansatz wählen. Und wir haben schon eine Menge an Nachfragen aus dem internationalen Raum. Ziel ist also, ein Gefährder, egal wo er sich aufhält, wird am Ende dann auch vergleichbar behandelt. Und wir haben dann auch auf freiwilliger Basis darauf dann mit den Bundesländern ein Controlling verabredet. Das heißt, wir schauen auch, werden die Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt. Auch das ist eine Selbstverpflichtung bei den Bundesländern. Denn wir wollen ja alle am Ende die Maßnahmen treffen, die wir für richtig halten. Es ist nicht so, dass wir irgendjemand zum Jagen tragen müssen. Wir sind uns unserer Verantwortung durchaus bewusst.

Herter: Trotzdem, bei der BKA-Tagung, die vor einigen Wochen stattgefunden hat, hat Ihr Hamburger Kollege gesagt, es gäbe da einen Fall in Hamburg, wo jemand gar nicht in das Gefährder-Raster reingepasst hat. Das ist der Beschuldigte, der in einem Supermarkt jemanden ums Leben gebracht hat. Also das Schema kann ja noch so gut sein. Man muss sicher beurteilen können, wann jemand rausrutscht, wann er nicht mehr Gefährder oder gefährlich ist. Diese Schwierigkeit bleibt doch erhalten?

Münch: Ja, zum einen muss man natürlich sagen, dass auch jedes noch so gute System keine hundertprozentigen Vorhersagen erlaubt. Wir reden immer nur über Wahrscheinlichkeiten, an denen wir uns dann besser ausrichten können, wo wir auch Prioritäten setzen. Zum anderen brauchen Sie natürlich auch immer ein Mindestmaß an Information. Wir können nur die beurteilen, die wir kennen, und wir können nur die beurteilen, über die wir genug Informationen haben. Das heißt aber auch umgekehrt, in Fällen, wo wir ein Risiko vermuten und wir nicht genug Informationen haben - war der Mensch schon mal gewalttätig, in welchem Umfeld hält er sich auf und so weiter – sind wir auch aufgefordert, genau in diese Richtung weiter zu ermitteln. Aber natürlich ist es so, ohne die ausreichenden Informationen kann dieses System nicht funktionieren.

Herter: Glauben Sie, dass eine stärker federführende Rolle zum Beispiel des BKA im gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum förderlich wäre?

Münch: Wir haben die Geschäftsführung im BKA schon heute. Aber die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass wir hier auch noch stärker investieren müssen. Denn die Zahl der Gefährder hat sich in den letzten vier Jahren mehr als verfünffacht. Wir haben einen sehr starken Anstieg der Verfahren in Deutschland. Das ist zum einen eine gute Nachricht, weil wir natürlich den Themen allen nachgehen, aber es ist eben auf der anderen Seite auch eine hohe Last. Und das bedeutet eben zum einen, dass wir in der koordinierenden Rolle noch stärker werden müssen. Ich habe schon erwähnt, dass wir dazu eine neue Arbeitsgruppe hier eingerichtet haben, die muss aber auch letztendlich einen entsprechenden Background haben. Wir bringen also viele Spezialisten auch nach Berlin, um das hier auch entsprechend unterstützen zu können. Zum Beispiel wird dann auch ein fachlicher Bericht von entsprechend geschulten Leuten vorher erstellt, bevor man in eine solche Fallkonferenz geht. All das kostet Ressourcen, das ist völlig klar.

Und zum Zweiten geht es natürlich auch darum, diese Vielzahl von Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland führen zu können. Und diese Last liegt momentan sehr, sehr stark bei den Bundesländern und damit eine doppelte Last. Zum einen die Gefährderüberwachung, das praktische Tun und zum anderen eben auch viele Strafverfahren. Und da ist es gemeinsam erklärter Wille, dass der Bund hier auch gerade die herausragenden Verfahren führen muss. Das ist zum einen auch erforderlich, um die Zusammenhänge zu erkennen und zum anderen natürlich auch, damit jeder in seiner Rolle die Leistung bringen kann. Die Länder eher in der Gefährderüberwachung. Wir in der Bearbeitung herausragender Gefahrenlagen und herausragender Strafverfahren.

Herter: Im gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum sind auch die Nachrichtendienste vertreten, das ist Sinn der Sache, Informationsaustausch. Anfangs hat es große Vorbehalte gegeben. Ich denke, vonseiten der Nachrichtendienste. Wie  hat sich das inzwischen eingependelt, arbeiten Sie gerne mit Mitarbeitern der Nachrichtendienste zusammen?

Münch: Ich kann sagen, dass es eine sehr, sehr positive Entwicklung war in den letzten Jahren. Seit 2004 gibt es das gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum. Immer wieder kommt die Diskussion um das sogenannte Trennungsgebot. Es gibt ein organisatorisches Trennungsgebot, und das aus gutem Grund. Keiner in Deutschland möchte eine Geheimpolizei, also einen Geheimdienst mit polizeilichen, mit exekutiven Befugnissen. Aber es gibt nirgendwo ein Zusammenarbeitsverbot. Und ich glaube, das muss man auch immer wieder ganz klar herausstellen.

Wir können nur hier diese Herausforderungen gemeinsam meistern, wenn wir ganz intensiv zusammenarbeiten. Und das hat sich seit 2004 mit dem gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum stark verbessert. Wir sind auch auf einem Gelände, der Verfassungsschutz mit den entsprechenden Abteilungen und wir vom BKA. Mit Herrn Maaßen eröffne ich gemeinsam Veranstaltungen auch für Mitarbeiter, zum Beispiel eine Gesundheitswoche oder ein Sommerfest. Dann zapfen wir auch mal ein paar Bier für die Mitarbeiter. Das heißt, hier hat sich das Klima schon sehr stark verändert. Jeder in seiner Rolle, Informationsweitergabe im Rahmen der rechtlichen Befugnisse, aber eben auch mit dem Bewusstsein für die Erfordernisse des anderen. Am Anfang muss man sich finden, aber dann wird die Zusammenarbeit Schritt für Schritt besser.

Herter: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts Holger Münch. Ja, was sich auch verändert hat ist die Situation im Nahen Osten. Die Situation des sogenannten Kalifats des Islamischen Staats. Es wird immer kleiner. Was sind die Folgen für Deutschland?

Münch: Ich denke, man kann sagen, dass es quasi aufgehört hat zu existieren, dieses sogenannte Kalifat, seit Ende November sind die letzten größeren Städte nicht mehr  unter Kontrolle des sogenannten IS. Wir sehen aber auch, dass die Struktur des sogenannten Islamischen Staates sich auf die nächste Phase, so würde ich es mal nennen, vorbereitet hat. Wenn wir uns alleine mal anschauen, wie die Propaganda sich entwickelt hat. So ist sie grob durch drei Phasen gelaufen. Am Anfang mit dem Aufruf, sich am Dschihad zu beteiligen, auszureisen. Dann, als die Allianz sich auch formiert hatte, hörte das schon auf und es begann eher der Aufruf zu Straftaten beziehungsweise Anschlägen, egal wo man sich aufhält, gerade bei den Mitgliedern der Anti-IS-Koalition. Wir haben beobachten können, wie dann Schritt für Schritt sich das noch weiter entwickelt hat. Wir sehen viel weniger Propagandaprodukte der klassischen Art. Dafür haben sich die Dschihadistenstrukturen in den sozialen Medien etabliert, unterhalten dort Chat-Foren und tauschen dort Informationen aus, eben unbeobachteter für Sicherheitsbehörden und haben so etwas wie virtuelle Netzwerke gebildet. Und das ist auch das große Risiko. Wir gehen davon aus, dass zum einen diese virtuellen Netzwerke bestimmend sein werden, zum anderen ein Trend zum individuellen Dschihad und zu losen Netzwerken besteht, was für uns bedeutet, dass wir eben solche Verbindungen sehr, sehr schnell erkennen müssen.

Eine weitere Anforderung an die nationale und internationale Zusammenarbeit, sehr schnell Informationen auszutauschen. Die positive Seite der Medaille wird sein, dass wir - und damit rechnen wir - viel mehr Informationen aus Syrien und Irak bekommen werden. Und da gilt es, die auch für Strafverfahren und für Gefahrenermittlung verfügbar zu machen, den Strafverfolgungsbehörden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Da arbeiten wir sehr intensiv auch auf der europäischen Ebene, um uns auch mit unseren Partnern richtig aufzustellen.

Herter: Informationen bekommen Sie auch, weil Sie vernehmen. Sie vernehmen verdächtige IS Mitglieder, darunter auch deutsche Staatsbürger. Wie geht das vor sich?

Münch: Nun, das passiert bislang in Einzelfällen. Das ist auch ein Ergebnis dieser Entwicklung, dass zunehmend auch Personen dort festgenommen werden. Und wenn das so ist, dann versuchen wir, über den Rechtshilfeweg Zugang zu bekommen. Da ist das Auswärtige Amt natürlich auch sehr stark eingebunden. Und wenn uns das gelingt, so wie auch schon im Irak, dann machen wir die Vernehmung schon vor Ort. Denn unser Ziel ist natürlich, sollte es dann auch zu einer Rückkehr kommen, die Information für Strafverfahren so früh wie möglich zu haben.

Herter: Sie wollen die deutschen Staatsbürger zurückholen nach Deutschland, die dem IS angehört haben?

Münch: Ich will es mal so ausdrücken: Ein deutscher Staatsbürger hat zunächst erst einmal ein Rückkehrrecht, wenn er nicht dort der Strafverfolgung unterliegt und ein Verfahren dort eröffnet wird. Und wenn das so ist, dann kommen diese Personen nach Deutschland zurück, wie andere Rückkehrer ja auch. Und dann liegt es an uns, die Gefahr möglichst früh und richtig einschätzen zu können und natürlich auch die Maßnahmen zu treffen der Strafverfolgung, die man treffen kann.

Herter: Ein großes Sonderproblem, was Deutschland hat, was das BKA vermutlich auch hat, das sind die Kinder, die geboren wurden in diesem Kalifat, von denen natürlich keine Gefahr ausgeht, die aber mutmaßlich beim Heranwachsen einem Einfluss unterliegen. Wie gehen Sie damit um?

Münch: Das ist ein Thema, in erster Linie natürlich auch für die Dienste, aber nicht nur, sondern wir müssen dieses Risiko einschätzen. Das heißt, dazu brauchen wir eine Information, in welchen Zusammenhängen sind diese Kinder groß geworden. Klar ist glaube ich, dass man sich um diese Kinder kümmern muss. Das gilt jetzt auch schon für Kinder von festgenommenen oder festgesetzten dort weiblichen Personen, wo die Mütter auch teilweise selbst wollen, dass sie auch jetzt nach Deutschland zurückkehren können. Und da glaube ich, sind wir von vornherein auf eine sehr gute Betreuung hier in Deutschland angewiesen. Das ist eine Herausforderung für - ja, ich denke die Sozialbehörden in Deutschland, sich auf diese Situation einzustellen. Und wir sind gefordert, hier die notwendigen Informationen auch zu liefern, damit man den Background kennt. Und mit "wir" meine ich dann die Dienste in erster Linie und in zweiter Linie die Polizei.

Herter: Vor längerer Zeit wurde schon vor den Gefahren durch Rückkehrer gewarnt. Jetzt hat es aber keine überragende Anzahl von Anschlägen durch Rückkehrer gegeben. Hat man sich da getäuscht?

Münch: Es gab schon Anschläge durch Rückkehrer. Nicht allein durch Rückkehrer, sondern in Kombination mit anderen. Denken wir nur mal an die Ereignisse in Frankreich. Insofern glaube ich nicht, dass wir die Situation falsch einschätzen. Wir sagen ja auch, auf der einen Seite gibt es Personen, die sicherlich desillusioniert nach Deutschland zurückkommen. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor Radikalisierte, die dann auch ein erhöhtes Risiko darstellen können, weil sie möglicherweise Kampferfahrung, andere Ausbildung haben. Und es ist natürlich so, dass die nicht in erster Linie auskunftsbereit gegenüber der Polizei sind, weder die einen noch die anderen, weil sie ohnehin einem Strafverfahren unterliegen. Das macht es für uns dann auch schwer, die einen von den anderen zu unterscheiden. Also, wir haben schon ein hohes Augenmerk auf diese Personengruppe. Aktuell sehen wir keine erhöhte Rückreisewelle, trotz des Zusammenbruchs des sogenannten IS Kalifats. Wir beobachten, was passiert, wir stellen uns auf verschiedene Entwicklungen ein. Wir müssen auch einkalkulieren, dass Ausgereiste auch aus anderen Ländern möglicherweise den Weg nach Europa suchen. Sie wissen, auch gerade aus dem Maghreb Raum sind viele Personen ausgereist. Und deshalb stellen wir uns auch hier darauf ein, dass die Informationen dazu, die wir gewinnen können, hier auch verfügbar gemacht werden. Wir sind intensiv im Austausch mit den Maghreb Staaten und auf der europäischen Ebene. Unser Ziel muss es sein, solche Personen dann auch möglichst früh, wenn sie als Flüchtlinge getarnt möglicherweise hierher kommen, zu identifizieren.

Herter: Kann man die Gefahr allgemein einschätzen? Sie sprechen von verschiedenen Phasen, die es da gegeben hat. Jetzt mag man denken, wenn dieses Kalifat sozusagen, quasi nicht mehr existiert, dass der Höhepunkt der Gefahr überschritten ist. Würden Sie diese Einschätzung teilen?

Münch: Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass der sogenannte Islamische Staat sehr anpassungsfähig ist. Und insofern gehen wir davon aus, dass wir jetzt in eine Phase kommen, wo eben Netzwerke entstehen werden von Dschihadisten. Wir haben ein hohes Personenpotenzial in Deutschland und Europa. Wir zählen über 700 Gefährder hier, über 400 relevante Personen. Das salafistische Spektrum ist auf über 10.000 Personen in Deutschland angewachsen. Das heißt, diese Situation ist unverändert. Wir haben darüber hinaus internationale Netzwerke, die entstanden sind durch Ausreisen, und die jetzt eben durch diese neue Entwicklung unterstützt werden. Wir gehen also nicht davon aus, dass die Bedrohung in absehbarer Zeit zurückgeht. Daneben müssen wir sehen, dass wir natürlich viele junge Männer haben, die nach Deutschland gekommen sind aus verschiedensten Ländern, auch des muslimischen Glaubens, die ein erhöhtes Radikalisierungsrisiko haben können: Brüche in der Biografie, Suche nach Halt. Also auch hier heißt es, sehr genau hinschauen und auch mit Unterstützungsmaßnahmen zum Teil reagieren, damit man eben einer solchen Radikalisierung vorbeugt. Wir haben eine Menge an Verurteilungen, die wir aktuell erreichen oder erreicht haben. Auch das sind natürlich Personen, die auf mittelfristige Sicht auch wieder in Freiheit kommen. Und auch hier müssen wir sehr genau schauen, wie ist der weitere Radikalisierungsverlauf? Wie gehen wir mit diesen Personen um?

Also, es heißt für uns gar keine Entspannung, sondern einstellen auf neue Situationen. Und das, glaube ich, kann man auch von den Sicherheitsbehörden zu Recht erwarten. Wir müssen eben auch unsere Netzwerkstrukturen noch besser ausbauen. Das tun wir zum Beispiel in Europa, indem wir nach Berlin im Februar alle Polizeichefs eingeladen hatten, um hier zu klären, wie stellen wir uns schnell auf solche Veränderungen ein. Das Ergebnis war, dass sich jetzt regelmäßig alle Staatsschutzleiter der europäischen Polizei bei Europol treffen, um solche Entwicklungen dann auch in europaweite Konzepte zu gießen, sodass wir hier auch gemeinsam schneller handlungsfähig sind.

Herter: Ja, anders ausgedrückt ist die Sicherheitsarchitektur in Deutschland immer noch zu langsam, so haben Sie es bei der BKA-Tagung gesagt. Und auch das BKA selbst ist zu langsam. Sie haben es kurz angesprochen, vielleicht können wir darauf jetzt noch mal zurückkommen. Sie planen also neue Strukturen, Sie planen eine bessere Zusammenarbeit. Was ist noch ein Schlüsselfeld, auf dem Sie aktiv sind und aktiv sein müssen, um der Terrorgefahr zu begegnen?

Münch: Das Herzstück von Polizeiarbeit ist Information. Also auch die Informationssysteme. Und die sind zu langsam. Das habe ich auch auf der Herbsttagung gesagt. Das liegt daran, dass sie über Jahre und Jahrzehnte entstanden sind. Nehmen wir nur unser polizeiliches System INPOL. Das besteht schon seit den Siebzigern. Die Architektur ist aber aus den Siebzigern. Das heißt, wir haben ein Zentralsystem und jede Polizei hat ein Landessystem oder Teilnehmersystem. Insgesamt sind es 19, wenn man die drei Bundesbehörden mitnimmt. Daneben ist es organisiert in ganz, ganz vielen Datentöpfen. Immer, wenn ein neues Problem kommt, hat man eine neue Datei drangebaut, und so müssen Sie sich daraus ein sehr verschachteltes Gebäude vorstellen. Und wenn Sie jetzt schnell etwas verändern müssen, dann kriegen Sie es mit dieser Architektur kaum hin. Zum Beispiel haben wir als das Thema Ausreisen in die Kriegsgebiete entstand, die sogenannten Foreign Fighters, uns europaweit geeinigt, diese in dieses System einzustellen. Und dann müssen Sie Ihre gesamte Landschaft anpassen, bis hin in die Vorgangsbearbeitungssysteme der Länder. Und dieser Prozess dauert normalerweise zwei Jahre, um eine solche Veränderung durchzuführen. Das ging natürlich nicht, deswegen haben wir das mit einem, wie man das neudeutsch nennt, Workaround gemacht - ich würde es auch als Basteln bezeichnen -, um das schneller hinzukriegen.

Aber es zeigt, dass Sie mit so einer Architektur gar nicht mehr arbeiten können. Und was wir jetzt auf den Weg bringen ist ein gemeinsames Datenhaus der Polizei, auf der dann gemeinsame Anwendungen der Polizei laufen. Nicht mehr jeder seins, sondern eine gemeinsame Struktur. Und ich glaube, das ist der Schlüssel der Veränderung, die wir in Deutschland brauchen. Es wird ja immer zwischen föderalen und zentralen Strukturen hin und her diskutiert. Beide haben Nachteile. Eine zentrale Struktur hat den Vorteil von einheitlichen Systemen. Aber sie ist langsam und träge, wenn es lokale Prioritäten betrifft. Eine föderale Struktur ist gut darin, Entscheidungen vor Ort zu treffen, aber die Systeme laufen auseinander. Jeder macht seins. Und deshalb setzen wir uns sehr stark als Zentralstelle der Polizei dafür ein, jetzt den Systembruch zu schaffen und zu sagen: raus aus diesem Flickenteppich, rein in einheitliche Systeme. Wir bieten Plattformen für die gesamte Polizei in Deutschland. Das Datenhaus ist das große Projekt, was wir jetzt anpacken. Aber es sind auch weitere. Immer, wenn wir etwas entwickeln, dann denken wir daran, auch alle Länder partizipieren zu lassen, sodass wir jetzt Schritt für Schritt quasi in ein System kommen, was beide Vorteile vereint. Und das ist glaube ich das Entscheidende. Also, ein föderales System auf einheitlichen Strukturen zu bauen. Das heißt aber auch, und das sagen wir auch ganz deutlich: Dafür brauchen wir auch einheitliches Recht. Wenn man von uns zu Recht erwartet, dass wir zum Beispiel die Gefährderüberwachung in Deutschland standardisiert angehen, egal wo ein Mensch wohnt - das Sicherheitsniveau ist gleich -, dann müssen wir die Maßnahmen aber auch überall dürfen.

Herter: Herr Münch, wann haben Sie bei der Polizei angefangen?

Münch: 1978.

Herter: Und da gab es das INPOL-System auch schon, oder?

Münch: Ja, da gab es das auch schon. Es hat sich weiterentwickelt. Windows gab es ja auch schon früher und heißt immer noch Windows. Aber die Grundarchitektur, das muss man sagen, dahinter, ist immer noch die gleiche.

Herter: Und Sie fühlen sich trotzdem sicher?

Münch: Ich fühle mich trotzdem sicher, weil ich ja auch einen guten Blick habe, wie andere Polizeien auf der Welt organisiert sind. Und wir haben viele, viele Stärken. Wir haben eine extrem gute Ausbildung in Deutschland, um die uns viele beneiden. Bei uns stimmen, wenn man so will, die Basics. Wir müssen natürlich auch sehen, dass wir bei diesen Rahmenbedingungen, die wir haben, schneller Wandel um uns herum, Digitalisierung, wir müssen uns fit machen fürs digitale Zeitalter. Auch nicht mit den Methoden der alten, statischen Welt reagieren. Wie hat ein Kollege aus Holland mal zu mir gesagt, auf asymmetrische Bedrohung reagiert man nicht mit Bürokratie. Und wenn wir das mal in unserer Historie uns anschauen, wenn wir nach der Wiedervereinigung erst über die Veränderung von Flächennutzungsplänen geredet hätten, dann hätten wir keinen Zaun durchgeschnitten. Also auch hier gilt es, neue Methoden einzuführen und sie zu überdenken, die wir heute haben, damit wir schneller Veränderungen durchführen können. Auch das ist auf der Agenda.

Herter: Herr Präsident, vielen Dank für das Gespräch.