Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: "Ein Anschlag kann jederzeit und überall passieren"

BKA-Präsident Holger Münch im Gespräch mit der Bild am Sonntag über die Sicherheitslage in Deutschland und Europa

Bild am Sonntag: Wie hoch ist aktuell die Terrorgefahr in Deutschland?

Holger Münch: Wir haben nach wie vor eine ernstzunehmende Bedrohungslage. Europa und auch Deutschland stehen schon seit einigen Jahren im Zielspektrum des islamistischen Terrors. Daran hat sich nichts geändert.

Bild am Sonntag: Von wem geht die größte Gefahr aus?

Wir sind mit sehr vielschichtigen Gefahrenlagen konfrontiert. Sicherlich stellen die Personen, die sich hier im Stillen radikalisieren und zur Begehung ihrer Tat auf Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Messer oder Äxte zurückgreifen, die Sicherheitsbehörden vor die größten Herausforderungen. Denn in diesen Fällen gibt es mitunter keine Anhaltspunkte, durch die wir auf sie aufmerksam werden.

Bild am Sonntag: Der IS ist militärisch auf dem Rückzug - kommen jetzt deren Kämpfer nach Europa und Deutschland?

Davon müssen wir ausgehen. Da diese Personen aber nicht zwingend in ihre Heimatländer zurückkehren, ist eine enge internationale Zusammenarbeit unentbehrlich, um diesem stetig wachsenden Potential gut vernetzter Personen begegnen zu können.

Bild am Sonntag: Gibt es Versuche des IS, Attentäter unter den Flüchtlingen zu rekrutieren?

Es ist vor allem die salafistische Szene, die versucht, Flüchtlinge gezielt anzusprechen und so zu rekrutieren. Verfassungsschutz und Polizei haben eine Menge Aufklärungsarbeit geleistet.
Hinzu kommt, dass es im Internet mittlerweile eine hoch professionelle Kommunikationsstruktur mit Foren und Chats gibt, in denen Flüchtlinge, die Anschluss suchen, radikalisiert werden können.

Bild am Sonntag: Warum können Gefährder ohne deutschen Pass nicht schneller abgeschoben werden?

Wir zählen derzeit rund 620 islamistische Gefährder, von denen etwa Zweidrittel die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Deshalb reichen Abschiebungen allein nicht aus. Hier müssen wir mit anderen Maßnahmen ansetzen. In den übrigen Fällen ist es nicht selten eine Frage, wie gut die zuständigen Ausländerbehörden mit den jeweiligen Herkunftsstaaten zusammenarbeiten können, um fehlende Passersatzdokumente von dort zu bekommen. Denn ohne diese ist eine Abschiebung nicht möglich.

Bild am Sonntag: Ist der Rechtsstaat stark genug, um mit Gefährdern wie Amri fertig zu werden?

Seit 2013 haben sich die Gefährderzahlen vervierfacht, ebenso wie die Zahl der Gefährdungshinweise. Deshalb müssen wir unsere Strategien weiterentwickeln. Bislang ist die Überwachung der Gefährder Ländersache. Unser Ziel muss sein, dass Gefährder in Deutschland nach einem einheitlichen Maßstab beurteilt und bearbeitet werden. Dafür brauchen wir einen einheitlichen rechtlichen Rahmen. Es ist für die Überwachung von Gefährdern nicht hilfreich, dass wir 16 verschiedene Polizeigesetze haben. So ist in fünf Bundesländern, darunter Berlin und Nordrhein-Westfalen, aus rechtlichen Gründen keine Kommunikationsüberwachung möglich. Ich appelliere deshalb, dass die Polizeigesetze schnell vereinheitlicht werden.

Bild am Sonntag: Wieso kam das BKA Ende Februar laut "ZEIT" zu der Einschätzung, ein Anschlag durch Amri sei "eher unwahrscheinlich", obwohl das LKA zwei Wochen vorher das Gegenteil festgestellt hat? Sind aus diesem Irrtum Konsequenzen gezogen worden?

Bei der Einschätzung von Sachverhalten ist es nicht selten, dass zunächst unterschiedliche Meinungen bestehen. Es ist gerade der Sinn des GTAZ diese zu diskutieren und zu einer gemeinsamen Bewertung zu kommen. Im Fall Amri wurden die Bewertungen einheitlich getroffen und auch so in den Protokollen vermerkt.

Bild am Sonntag: Immer mehr Deutsche bewaffnen sich. Verstehen Sie diese Entwicklung?

Die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, ist größer geworden. Wir raten dringend davon ab, sich zu bewaffnen, etwa mit einer Schreckschusspistole, weil sie statt Schutz zu bieten eher zu einer Eskalation führen könnte. Sinnvoll sind beispielsweise Geräte, die einen lauten Alarmton von sich geben, die Angreifer erschrecken und die Aufmerksamkeit anderer Menschen in der unmittelbaren Umgebung auf sich ziehen können.

Bild am Sonntag: Ist die Angst denn begründet?

Die Zahl der Straftaten in Deutschland ist relativ konstant. Das subjektive Sicherheitsgefühl ist also schlechter als die objektive Lage.

Bild am Sonntag: Welche Rolle spielt dabei der Terror?

Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, sehr gering. Gleichzeitig wissen wir aber, dass ein Anschlag theoretisch jederzeit und überall passieren kann. Es ist also verständlich, wenn das Sicherheitsgefühl abnimmt, auch wenn die objektive Lage dies nicht hergibt.

Bild am Sonntag: Wie steht es um die Vernetzung der Polizei in Europa?

Hier konnten gerade in jüngerer Zeit erhebliche Verbesserungen erreicht werden. Aber: Die Vernetzung der polizeilichen Systeme innerhalb Europas muss noch besser werden. Es fehlt beispielsweise eine biometrische Komponente im Schengener Informationssystem, damit Personen anhand ihres Fingerabdrucks eindeutig identifiziert werden können. Ebenso fehlt ein europäischer Kriminalaktennachweis, in dem an zentraler Stelle Zugriff auf alle polizeilichen Informationen zu einer Person möglich ist.

Bild am Sonntag: Was muss passieren?

Wir müssen innerhalb Europas polizeiliche Daten so austauschen können, als seien wir eine Nation. Und wir brauchen eine starke zentrale Koordination polizeilicher Zusammenarbeit innerhalb Europas. Ähnlich der Rolle des BKA als Zentralstelle der deutschen Polizei. Denn in einem Europa ohne Binnengrenzen muss auch die Polizei eng und grenzüberschreitend zusammenarbeiten können. In diese Veränderungen bringen wir uns aktiv ein.